Page 19 - Leseprobe - Vom Brot im Meer
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lischen Regierung organisiert und durchgeführt. Diese
            neue Siedlung mit den Flüchtlingen aus Shanghai nannte
            man „Shikun Shanghai“. Unter ihnen waren aber auch
            einige, die die Konzentrationslager überlebt hatten. Auch
            sie wohnten in kleinen Häusern dieser Siedlung, bezogen
            kleine Pensionen und versuchten sich wieder an ein Le-
            ben ohne Angst und Verfolgung zu gewöhnen. Alle hat-
            ten ihren ganzen Besitz verloren, und die Regierung ver-
            suchte ihnen zu helfen. Viele von ihnen waren geschulte
            und gute Handwerker. Da großer Mangel an Bauarbei-
            tern bestand, sah man oft Leute, die sich in der Siedlung
            um Hilfskräfte umschauten. Meine Eltern wussten das,
            und als die Schwierigkeiten bei unserem Hausbau im-
            mer größer wurden, ging mein Vater auch nach Shikun
            Shanghai, um dort einen Glaser zum Einbau der Fenster-
            scheiben zu finden.
              Zu unserer Überraschung und Erleichterung kam er
            bald mit einem Ungarn zurück, der ihm versichert hatte,
            dass er diese Arbeit erledigen konnte. Vater war froh,
            dass er einen Helfer gefunden hatte und ging mit dem
            Mann ins Haus, damit dieser mit seiner Arbeit beginnen
            konnte. Nachdem er ihn aber einige Minuten beobach-
            tet hatte, kam er zu uns in die Küche. „Elsie“, sagte er
            und schüttelte den Kopf, „dieser Mann hat keine Ah-
            nung von der Arbeit eines Glasers! Warum sagte er mir,
            er sei ein gelernter Glaser, wenn er diese Arbeit gar nicht
            kennt? Wie ist so etwas überhaupt möglich?“
              Mein Vater runzelte zunächst seine Stirn, aber dann lä-
            chelte er ein wenig und sagte: „Trotzdem ist etwas an ihm,
            das ganz nett ist, Elsie! Wir müssen herausfinden, wer er
            eigentlich ist. Er spricht ein wundervolles Ungarisch. Viel-
            leicht ist das der Grund, dass er mir so sympathisch ist?
            Lass uns mehr über ihn herausfinden.“ Nun brachte mein
            Vater den Ungarn zu mir. Er war höflich und hatte gute
            Manieren. Als meine Mutter mit den Kindern erschien,
            setzten wir uns alle nieder und ich bot ihm eine kleine
            Erfrischung an. Wir plauderten eine Weile. Dann fragte
            mein Vater den Mann, wie sein Name sei und von wo in
            Ungarn er stamme. Es war eine Frage, die in Israel immer


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